„Wenn ich über die Vorzüge von Achtsamkeit und Mitgefühl spreche, dann hat das für mich nichts mit religiösem Glauben zu tun, sondern mit Erfahrungen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und der gesunde Menschenverstand sagen uns, dass es uns besser geht, wenn wir positive Qualitäten in uns entwickeln. Selbst wer sich nur ein paar Wochen etwa in Mitgefühl schult, erfährt, dass sich der Blutdruck senkt, der Stress verringert und er sich wohler fühlt. Jeder von uns kann das selbst nachprüfen. Das ist der springende Punkt: Wir brauchen die Schulung des Geistes, um ein besseres Leben führen zu können.“ Diese Sätze stammen von SH. Dalai Lama. Er, als Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, meint also, dass Achtsamkeit nicht notwendigerweise eine religiöse Praktik sei.
Achtsamkeit. Dieses Wort ist im Alltag nicht allzu geläufig. Schnell wird es in Zusammenhang gebracht mit fernöstlichen Traditionen wie Meditation und Yoga und steht in diesem Rahmen auch in Verbindung mit dem Begriff ‚Erleuchtung‘. In diesem Beitrag geht es zwar um Achtsamkeit aber nicht um das Ziel der Erleuchtung. Er soll aufzeigen, dass Achtsamkeit von großer Bedeutung ist auch für Menschen, die sich nicht von den fernöstlichen Traditionen angezogen fühlen. Und es sind sehr viele Menschen, die nicht diesen Weg gehen. Achtsamkeit ist eine überaus wertvolle Fähigkeit, die in jedem Menschen veranlagt ist und die jeder trainieren kann, ohne dass das Ziel die Erleuchtung sein muss, wie auch immer wir sie definieren wollen.
Genau betrachtet ist es so, dass die Welt um vieles freundlicher und weniger problemhaft aussähe, wenn jeder Mensch sich dazu entscheiden könnte, sein Leben mit Achtsamkeit zu leben. Allein schon das eigene, ganz persönliche Leben gewinnt durch Achtsamkeit an Tiefe und Lebendigkeit, fühlt sich kraftvoller, farbiger, intensiver an. Außerdem sind wir weniger gestresst. Auch das menschliche Miteinander wird reicher und die Wertschätzung der gesamten Mit- und Umwelt gegenüber größer.
Was ist unter Achtsamkeit eigentlich zu verstehen?
Das Wort ist so leicht dahin gesprochen und wir denken eventuell zu wissen, was damit gemeint ist. Hört man sich einmal nach einer genaueren Definition um, wird man unterschiedliche Aussagen hören. Um dem Begriff näherzukommen folgende Frage: Wie sieht es konkret im Alltag aus?
Wir alle wünschen den Kontakt mit anderen Menschen, möchten wahrgenommen und respektiert, ja, auch geliebt werden. Andere wünschen sich dasselbe von uns. Wenn wir einen Menschen schätzen oder lieben, achten wir bewusst auf unsere Umgangsweise mit ihm. Wir überlegen uns, was er gerne hat, mit welchen Dingen wir ihm eine Freude machen können. Wir beobachten ihn genau; versuchen ihn so umfassend wie möglich wahrzunehmen und zu verstehen.
Wir spüren, wo er verletzlich ist und wir versuchen es zu vermeiden, ihn an dieser Stelle „grob anzufassen”. Wir sind bereit, Hilfe zu geben, ihn zu unterstützen, wenn dies nötig ist. Wir können auch nachsichtig mit ihm sein, wenn er gerade eine schwierige Zeit hat. Wenn mit uns selbst in ebenso derselben Weise umgegangen wird, tut uns das gut und wir sind glücklich.
Geläufiger als das Wort Achtsamkeit sind die Begriffe ‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Konzentration‘. Um Achtsamkeit besser zu verstehen, hilft es, sich zunächst einmal diese beiden anzusehen.
Aufmerksamkeit
– Irgendetwas außerhalb von mir zieht meine Aufmerksamkeit auf sich: Ein anderer Mensch, ein Schaufenster, eine besondere Blume beim Spazierengehen, irgendein Gegenstand oder eine Situation. So z. B. der Pantomimenschauspieler in der Fußgängerzone. Zunächst sehe ich, be-merke ich ihn und wie um ihn ein Kreis von Leuten steht. Er fällt mir auf. Ich werde auf ihn aufmerksam.
– In Schultagen hieß es: “Du musst im Unterricht aufpassen, musst aufmerksam sein, damit du alles mitbekommst.“
– Wir müssen aufmerksam sein beim Autofahren.
– Wir sollten bei einem Geschäftsmeeting, bei einer Vertragsverhandlung, bei einem Vortrag aufmerksam sein, wenn Konzepte und Inhalte besprochen werden, damit uns nichts entgeht und wir nicht das Nachsehen haben.
– Es können aber auch eigene Gefühle sein, die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, also etwas von innen heraus; z.B. Kummer, der an uns nagt, oder Ärger; aber auch eine freudige Erwartung in Hinblick auf etwas Schönes. Wir hängen an dem entsprechenden Gefühl fest, ohne zu bemerken, dass die Aufmerksamkeit nicht bei der Sache ist, die wir gerade im Moment eigentlich tun wollten oder sollten, sondern dass das entsprechende Gefühl seine Aufmerksamkeit fordert.
– Unsere Gedanken schweifen beim Lesen eines Buches ab, weil andere Themen uns im Kopf herumschwirren und die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Oder jemand betritt dann plötzlich das Zimmer, sodass unsere Aufmerksamkeit vom Buch weg, hin zur eintretenden Person geht. Wir schauen auf, wir merken auf.
– Und: Als Aufmerksamkeit wird auch ein Geschenk als ‘Dankeschön’ für eine Dienstleistung bezeichnet, d.h. ich weise damit jemanden darauf hin, dass ich ihn für seine Hilfe Wert schätze, ihm dankbar bin.
So, wie es hier aussieht, hat Aufmerksamkeit also einmal etwas mit feststellen zu tun, mit bemerken. Wir sagen auch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten oder auf etwas lenken. So können wir feststellen, dass Aufmerksamkeit immer direkt auf ein spezielles Ziel gerichtet ist – entweder mit Absicht oder auch zufällig.
Konzentration
Dieses Wort benutzen wir in dem Sinne “sich auf einen Gedanken oder ein Objekt punktgenau zu fokussieren”. Konzentration wird benötigt beim Bedienen von Maschinen aller Art, bei vielen Tätigkeiten, bei denen es darauf ankommt, dass keine Fehler gemacht werden (der Zahnarzt beim Bohren, der Chirurg beim Operieren). Konzentration ist nötig beim Lösen von schwierigen Aufgaben, beim Spielen eines Musikinstrumentes, allgemein beim Einüben von neuem, ob es Wörter einer anderen Sprache sind, Texte oder praktische Abläufe bei Tätigkeiten.
Im Kern kommt es auf ein punktgenaues Erfassen an. In dem Wort Konzentration steckt die Silbe ‘con’, die so viel bedeutet wie „zusammen, auf etwas hin“; und das Wort ‚Zentrum‘. Also bedeutet Konzentration, dass ich mich erst einmal ganz auf mein meine Mitte hin zurückziehen muss, um dann punktgenau eine Tätigkeit oder Situation im Außen anpeilen zu können und auf Anhieb zu treffen. Konzentration fokussiert noch mehr als Aufmerksamkeit. Sie ist eine gebündelte, gezielte Aufmerksamkeit, die wie der Strahl einer Taschenlampe oder eines Lasers auf einen Punkt gerichtet ist.
Achtsamkeit im Verhältnis zu Aufmerksamkeit und Konzentration
Oberflächlich betrachtet scheint ‚Achtsamkeit‘ austauschbar zu sein mit ‚Aufmerksamkeit‘ und wird auch manchmal so gebraucht. Im Wort Achtsamkeit ist jedoch noch etwas anderes enthalten: Das Wort ‚Achtung‘. Achtung nicht nur im Sinne von Vorsicht! Aufgepasst! sondern im Sinne von Respekt und Wertschätzung. ‚Achtung haben‘ in diesem Sinne heißt: Ich lasse eine Person gelten, so, wie sie ist und gebe ihr Raum, sich in ihrem individuellen Wesen zum Ausdruck zu bringen, ohne sie zu beurteilen, ohne sie zu verurteilen, ohne sie anders haben zu wollen, als sie ist. Ich respektiere, achte sie bewertungsfrei.
Auf diese Weise begegne ich ihr mit Achtsamkeit. In dieser Weise kann ich auch mit einem Ereignis bzw. mit einer Situation verfahren. Ich warte erst einmal einen Moment ab, ohne ein Urteil über sie zu fällen, ob sie schlecht oder gut für mich ist. Ich lasse erst einmal alles stehen, beobachte und lasse das Wahrgenommene auf mich wirken. Ich gehe nicht unmittelbar in eine spontane Reaktion. Dadurch kann ich Einzelheiten innerhalb der Situation besser erkennen, die ich bei einer unmittelbaren Reaktion übersehen würde.
In Bezug auf eine Person habe ich mehr Zeit auch auf Mimik und Gestik zu achten, auf die Stimmführung, die Körperhaltung oder darauf, ob sie mir etwas unbewusst oder bewusst zwischen den Zeilen mitteilen will. Ich spüre bei der Begrüßung die Stärke des Händedrucks, Wärme oder Kälte der Hände, usw. Ich lege mir während des Zuhörens nicht sofort schon die Antworten zurecht, sondern ich höre erst aufmerksam zu und nehme darüber hinaus noch Weiteres wahr, was in der Begegnung sonst noch geschieht. Das sind die sogenannten non-verbalen (also nicht gesprochenen) Aussagen eines Menschen, die uns viel mehr Informationen geben, als wir vermuten. Was wir dadurch wahrnehmen ist sehr viel authentischer als manches gesprochene Wort.
Achtsamkeit stärkt die Intuition
In der achtsamen Haltung sind alle Sinne aktiv. Somit ist das Spektrum meiner Wahrnehmungen also ganz offensichtlich erweitert. In der Achtsamkeit trete ich innerlich einen Schritt zurück und nehme somit den Standpunkt eines Beobachters ein, von dem aus ich erst einmal alles anschaue, bevor ich bewerte und eine Entscheidung zur Handlung treffe. An dieser Stelle könnte nun der Einwand kommen, dass das alles viel zu lange dauere. Dies könne man sich im Alltag nicht leisten. Dort müsse alles zügig und schnell erfolgen. Ohne Zweifel gibt es viele Situationen, in denen man unmittelbar und rasch reagieren muss.
Die geschilderte achtsame Verhaltensweise kann jedoch geübt werden, sodass sie nicht viel Zeit beansprucht, sondern innerhalb von Sekunden abläuft. Wir können dahin kommen, dass wir innerhalb von Bruchteilen von Sekunden genauso achtsam sind, so wie wir vormals impulsiv waren. Das hat damit zu tun, dass geschulte Achtsamkeit einhergeht mit einer erhöhten Intuition. Also mit einer Zunahme der Fähigkeit auch zu fühlen, was eine Situation beinhaltet oder was unser Gegenüber ausdrücken will. Es arbeitet nicht nur vorrangig der Verstand.
Mit Achtsamkeit ist also eine spezielle Haltung gemeint, die geweitet ist im Gegensatz zum sehr engen Blickwinkel der Konzentration, und die auch umfassender ist als bei der Aufmerksamkeit. Trotz dieser Weite nimmt die Achtsamkeit die Dinge tief und mit großer Klarheit wahr. Man könnte Achtsamkeit auch als den Raum bezeichnen, in dem dann Aufmerksamkeit und Konzentration aktiv werden.
Innerer Freiraum
Bei einer achtsamen Haltung entsteht also ein Raum um die Begegnung mit einem Menschen oder um ein Ereignis: Ich gebe der Person Raum und enge sie nicht mit meinem Urteil ein. Auch ein Ereignis, eine Situation bekommt mehr Raum, in welchem sich mehr als nur eine Facette entfalten kann. Dadurch stehen insgesamt mehr Informationen zur Verfügung, die zu einem ganzheitlicheren und somit wahrhaftigeren Bild verhelfen.
Darüber hinaus: Ich selbst kann dabei erst einmal durchatmen und fühle mich nicht unmittelbar bedrängt und an die Wand gedrückt von dem Eindruck dessen, was mir begegnet. Auch ich bekomme für mich selbst mehr Raum, in dem ich nicht nur das wahrnehme, was sich außerhalb von mir zeigt, sondern ich gebe auch mir die Möglichkeit, bewusst zu fühlen, was in mir selbst vor sich geht. Ich werde wachsam für meine eigenen Gefühle und für meine Gedanken, die sich einstellen. Auch meine eigenen körperlichen Reaktionen spüre ich deutlicher (z. B. freudiges oder furchtvolles Herzklopfen, feuchte Hände, ein Ziehen in der Magengegend usw.). So kann ich auch feststellen, was in mir selbst passiert und vor allem was mir gut tut und was nicht. Ich zolle mir selber Respekt.
Ich gewinne durch diese Haltung Zeit, mir zuerst deutlich zu machen, welches Ziel ich erreichen will und welches Verhalten dafür am sinnvollsten ist. Dann erst entscheide ich, wie ich handeln will. Da impulsives, unüberlegtes Agieren auf diese Weise vermieden wird, können Gespräche und Ereignisse einen völlig anderen Verlauf nehmen, als wenn ich sofort reagiere. Die Konsequenzen, die sich ergeben, sind andere. Achtsamkeit ermöglicht innere Klarheit, die zu klaren Äußerungen führt, mit denen dann zielgerichtet umgegangen werden kann.
Wir erkennen also, dass in dem Raum der Achtsamkeit nicht nur unser Gegenüber beinhaltet ist, sondern er bezieht auch uns selbst mit ein: Ich fühle sowohl mit dem anderen und ich fühle auch mit mir selber. Das bedeutet Mitgefühl, das nicht zu verwechseln ist mit Mitleid. Sich achtsam durchs Leben zu bewegen hat also genauso viel mit mir selbst zu tun wie mit dem anderen.
Ein achtsamer Umgang mit mir selbst bedeutet nicht Egozentrik, sondern die möglichst umfassende Wahrnehmung und Achtung meiner selbst, meiner Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse. Somit sorgt Achtsamkeit für Gleichberechtigung, weil für mich dieselben Bedingungen gelten wie für mein Gegenüber. Der Umgang miteinander wird dadurch authentischer – wahrhaftiger – ehrlicher, selbst in der Austragung eines Konflikts.
Insgesamt habe ich somit in mir einen gewissen Abstand von allem Geschehen oder zu einem Problem und bin nicht fest darin verwoben, wie ein Faden in ein Gewebe. In einer Begegnung mit einem Menschen vermischen sich meine Gefühle nicht mit denen des anderen zu einem unüberschaubaren emotionalen Knäuel.
Entscheidungsfreiheit
Das bedeutet somit, dass da plötzlich ein Gefühl von Innerer Freiheit ist. Ich bin flexibler im Reagieren und Handeln. Ich stelle erstaunt fest, dass ich nicht mehr unbedingt der Spielball der äußeren Umstände bin, sondern die Fähigkeit besitze, Einfluss zu nehmen, auf das was mir da begegnet. Ich kann ein großes Stück weit selber das lenken, was ich erleben will. Ich werde nicht gelebt und fremd gesteuert von etwas anderem, sondern ich kann selber igenverantwortlich gestalten, indem ich die Zeit habe, mir bewusst zu machen, was ich eigentlich tatsächlich will. Selbst, wenn ich einen Kompromiss eingehen oder meine Position aufgrund äußerer zwingender Umstände aufgeben muss, kann ich das aus der Achtsamkeit heraus mit einer bewussten inneren Haltung machen.
Das trägt dazu bei, dass ich die Konsequenzen besser tragen kann. Der Begriff der Psychologie hierfür ist Selbstwirksamkeit‘. Ein Gefühl der Selbstwirksamkeit – also selber etwas bewirken zu können – führt zu einer höheren Lebenszufriedenheit, zu einem Gefühl von Sinnhaftigkeit. Das trägt wiederum dazu bei, dass wir uns ausgeglichener und weniger gestresst fühlen. Achtsamkeit beugt somit auch Stress vor: Durch die zeitliche Entschleunigung, durch den entstehenden Raum für Selbstwirksamkeit und auch dadurch, dass Konflikte im Vorfeld erkannt werden oder durch bewusste Lenkung entschärft werden können.
Gefühle im Raum der Achtsamkeit
Was ist mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, die im Zustand der Achtsamkeit deutlicher wahrzunehmen sind? Wir werden schnell merken, dass sie nicht nur positiv sind. Da können Aggression, Angst, Sorge, Traurigkeit dabei sein. Sie können bezogen sein auf andere Menschen, auf eine Situation, auf die Zukunft und aber auch auf sich selbst. Wie damit umgehen, sobald wir sie wahrnehmen?
Gedanken und Gefühle sind sehr starke Kräfte. Sie stehen in gegenseitiger Wechselwirkung und sind der Motor für unser Handeln. Sich dessen bewusst zu sein, ist wichtig. Denn: Gefühle und Gedanken können förderlich sein. Sie können aber ebenso zerstörerisch wirken und Leid verursachen. Da sie sehr schnell auftauchen – eigentlich ohne dass wir dies wollen, beinahe automatisch – haben sie die Tendenz, dass sie sich unmittelbar zum Ausdruck bringen wollen. Durch Achtsamkeit lernen wir auch, die Entstehung unserer Gefühle und Gedanken zu beobachten und wie sie aufeinander einwirken; wie sie uns beeinflussen, unsere Stimmung, die Beziehung zu Menschen oder den Verlauf einer Handlung.
Zu den Gefühlen ist zu sagen, dass für die Ausgeglichenheit und Stabilität der Psyche folgende zwei Faktoren wichtig sind:
– Es ist unbedingt erforderlich, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sie vor allem innerlich auch zuzulassen, gleichgültig ob sie negativ oder positiv sind. Gefühle zu verdrängen, sie sich zu verbieten, macht auf die Dauer seelisch und körperlich krank. Es ist wichtig, bewertungsfrei festzustellen, dass sie da sind und es ist wichtig, sie sich zunächst zu erlauben. Wir lassen ihr Auftauchen einfach geschehen. In etwa so: Ich nehme Wut wahr, „ah… da ist Wut“; ich nehme Traurigkeit wahr …. „ah da ist Traurigkeit“. Ich h a b e das Gefühl, ich b i n aber nicht das Gefühl. Wenn ich etwas habe, dann kann ich damit umgehen und es auch beeinflussen. Ich kann danach forschen, womit das Gefühl zusammenhängt, um dann zu entscheiden, in wie weit es weiterhin Sinn macht, es beizubehalten. Auch das Aufsteigen von Freude nehme ich bewusst wahr. Dadurch erfährt sie keine Minderung. Im Gegenteil: Dadurch, dass ich sie registriere, wird sie noch ein Stück intensiver, nicht selten dadurch, dass sich Dankbarkeit zusätzlich einstellt.
– Gefühlen jederzeit freien Lauf zu lassen und sie prinzipiell nur auszuleben, kann unter Umständen auch schaden; nicht nur anderen sondern auch mir selbst. Somit ist es wichtig, die Gefühle zunächst bewusst wahrzunehmen – und sei es nur für Sekunden. Es ist nützlich, sie nicht impulsiv auszuagieren, sondern zu entscheiden, inwieweit es notwendig ist, dass ich ihnen Raum gebe. Die, die ich nicht will, weil ich erkenne, dass sie Schaden anrichten könnten, lasse ich los und suche nach Alternativen.
Achtsamkeit ermöglicht beides: Sowohl die bewusste Wahrnehmung der Gefühle als auch dann der geklärte Umgang mit ihnen.
Gedanken im Raum der Achtsamkeit
Gedanken fliegen uns ungewollt zu, entstehen in uns und fließen in einem unaufhörlichen Strom durch unseren Geist. Sie beeinflussen unsere Gefühle und verleiten zu entsprechenden Handlungen. Das heißt, dass wir durch Gedanken unweigerlich auch in Stimmungen versetzt werden können, die oftmals nicht nur positiv sind und die auch nicht unbedingt etwas mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben müssen. An Gedanken, die vergangene Ereignisse betreffen, hängen manches Mal unverarbeitete Gefühle wie Schmerz, Groll, Ärger. Tauchen diese Gedanken auf, sind wir einfach „schlecht drauf“, ohne unbedingt zu wissen weshalb. Das wiederum hat Wirkungen auf unser gegenwärtiges Handeln, wobei weitere negative Erfahrungen entstehen können, sodass ein unguter Kreislauf entsteht.
In positiver Weise geht das natürlich auch und ist dann ja auch erwünscht, da wir dadurch angespornt werden. Aber auch hier kann es ein Zuviel geben, was eher hinderlich als förderlich ist. Wenn Gedanken mit zu viel Erwartung oder Enthusiasmus verbunden sind, kann es zu großer Enttäuschung führen, wenn sich herausstellt, dass die Dinge doch anders liegen, als sie zunächst schienen.
In der Achtsamkeit können wir auch von den Gedanken einen Schritt zurücktreten, sie erst einmal betrachten und dann entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen wollen; ob wir sie überhaupt wollen. Die wir nicht wollen, lassen wir wie die Gefühle weiterziehen.
Achtsamkeit führt zur Klarheit
Dieser geschilderte Vorgang ist das, was der Dalai Lama im eingangs zitierten Text meint, indem er sagt, dass es sehr praktisch und nützlich ist, den Geist bewusst und kontrolliert zu gebrauchen. Wir können in der Achtsamkeit also die Tendenz der Gedanken und Gefühle wahrnehmen, ob sie schädlich oder nützlich für uns sind, für andere Menschen oder in Bezug auf eine Situation. Dann können wir bewusst wählen, was wir wollen und danach handeln.
Gedanken und Gefühle, die wir nicht wollen, lassen wir los, sodass sie von ganz allein den Raum der Achtsamkeit wieder verlassen können. Wir kämpfen nicht gegen sie an, denn dadurch würden wir sie nur in unserem Blick festhalten und sie damit verstärken. So können wir erkennen, das Achtsamkeit auch zur Seelenhygiene beiträgt. Wir können schädliche Gedanken fernhalten und „vergiften“ uns nicht selber mit unguten Stimmungen. Wie anfangs erwähnt: Wir alle besitzen die Fähigkeit zur Achtsamkeit. Sie ist allerdings sehr verschüttet durch die Ablenkungen in der äußeren Welt, die gerade in der heutigen Zeit so immens vielfältig sind. Und wir bekommen weder in der Erziehung noch in der Schule etwas darüber mitgeteilt.
Achtsamkeit und Gegenwart
Achtsamkeit schaut nur auf das, was gerade jetzt in diesem Moment ist und sich hier ereignet und nicht auf das, was die Vergangenheit oder Zukunft anbetrifft. Ich bin ganz wach und präsent im gegenwärtigen Moment, so, wie er sich gerade zur Sekunde darstellt. Meine Gedanken und Gefühle ziehen mich nicht in die Vergangenheit oder Zukunft, weg von dem, mit dem ich gerade jetzt zu tun habe.
In der achtsamen Haltung stehe ich in bewusster Beziehung und wacher Verbindung mit dem, was ich gerade tue oder mit dem Menschen, mit dem ich gerade in Kontakt bin. In diesem Moment bin ich ganz für die Person mir gegenüber da oder für die Tätigkeit, die zu tun ist. Das hat zur Folge, dass sich das, was ich gerade erlebe, viel intensiver und interessanter anfühlt. Innere Widerstände lösen sich auf und ich komme in einen sogenannten ‚Flow‘ – in eine Fließbewegung – hinein. Das wiederum kann unmittelbar Freude verursachen und führt schließlich zu mehr Zufriedenheit. Dadurch erlebe ich unter Umständen, dass mir plötzlich etwas Spaß macht, wozu mir zuvor die Motivation fehlte.
Wir fühlen uns oft nur deshalb schnell erschöpft oder unterschwellig deprimiert, gerade weil wir nicht bei der Sache sind, sondern im Kopf und schon dauernd viel weiter oder woanders. Vergangenheit und Zukunft sind nur Gedanken, die im Kopf existieren als Erinnerung oder als Phantasie. Sie sind Konstrukte und blockieren häufig die klaren Erfahrungen im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit ist vorbei, daran lässt sich nichts ändern und die Zukunft ist noch nicht da. Der einzige Zeitraum in dem Leben tatsächlich stattfindet ist ‚Jetzt‘.
Was die Zukunft anbetrifft: Ich kann sie nur von der Gegenwart aus gestalten. Allein das, was ich jetzt gerade tue, entscheidet darüber, wie die Zukunft aussehen wird. Deswegen ist es so wichtig und wertvoll, im gegenwärtigen Moment mit möglichst allen Sinnen anwesend zu sein. Nur in der Gegenwart können wir mit Sorgfalt die Dinge gestalten oder längerfristige Veränderungsprozesse in die Wege leiten. Pläne für die Zukunft zu machen ist einerseits unerlässlich. Und auch die Vergangenheit brauchen wir nicht absolut verneinen, denn aus manchem schönen Ereignis, das mittlerweile in der Vergangenheit liegt, können wir durch Erinnerung noch lange Kraft schöpfen.
Wenn wir allerdings permanent gedanklich in Vergangenem oder Zukünftigen verweilen, während wir gerade beschäftigt sind, verpassen wir Wichtiges oder auch Wertvolles, das sich gerade jetzt vor uns ereignet. Wenn wir uns immer wieder von dem gegenwärtigen Tun ablenken lassen durch unsere Gedanken und Gefühle, werden wir innerlich angespannt und gehetzt. Wir sind immer schon wieder beim nächsten. Das kann im Laufe der Zeit psychische und auch körperliche Beschwerden hervorrufen bis dahin, dass wir unser Leben als sinnentleert empfinden.
Entschleunigung
Um uns in Bezug auf den gegenwärtigen Moment in Achtsamkeit zu üben, können wir uns damit helfen, dass wir die Tätigkeiten langsamer verrichten und uns dabei vorstellen, als würden wir sie zum ersten Mal tun, wie es ein Kind tut; oder wieder zum ersten Mal, wie ein gerade von schwerer Krankheit Genesender. Ein Kind vollzieht eine für es neue Tätigkeit langsam und mit Bedachtsamkeit und beobachtet den ganzen Ablauf mit Erstaunen und Entzücken.
Ein Genesender ist dankbar dafür, wenn er zunächst einmal nur ganz wenige Dinge wieder tun kann. Staunen wir auch einmal wieder über Alltägliches und Selbstverständliches. Überlegen wir, welcher Aufwand eigentlich dahintersteht, dass Wasser aus dem Hahn läuft, wenn wir ihn aufdrehen. In anderen Ländern der Welt müssen Menschen meilenweit zu Fuß zum nächsten Brunnen gehen mit Eimern und anderen Gefäßen.
Staunen wir über die Gestalt einer Blüte, über die Emsigkeit einer Biene, wie sie von Blüte zu Blüte fliegt und den Blütenstaub einsammelt und wie dieser als kleine Pakete an den Beinen der Biene hängt. Auf diese Weise bekommen wir wieder mehr Zugang zu dem, was wir tun und erleben. Unser Leben erfährt dadurch insgesamt Bereicherung, mehr Tiefe und Fülle, mehr Intensität und somit mehr Zufriedenheit.
Wie bereits erwähnt ist Achtsamkeit eine Eigenschaft, die in jedem Menschen veranlagt ist, die wir jedoch gewohnheitsmäßig nicht ständig benutzen. Es ist allerdings auch nicht so, dass wir sie nie benutzen. Jedenfalls benutzen wir sie in der Regel viel zu wenig. Besonders in der Schnelligkeit unserer heutigen Zeit ist es nicht üblich und für uns zunächst einmal ungewohnt, mit ihr durchs Leben zu gehen.
Aber gerade deswegen ist es notwendig, sich ihr dennoch zuzuwenden, um nicht an den Gepflogenheiten der schnelllebigen Zeitqualität zu erkranken. Sie ist auch wichtig, um neue Akzente im Leben zu setzen für ein tieferes, befriedigenderes, ausgeglichenes Lebensgefühl. Das heißt, Achtsamkeit erzeugt ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, das der Mensch unbedingt braucht, um leben zu können. Eine weitere Wirkung von Achtsamkeit ist, dass wir weniger gestresst sind. Wir werden gelassener und ruhiger.
Einfache Übungen zum Einstieg ins Achtsamkeitstraining
Wie eingangs erwähnt, benötigen wir nicht unbedingt die Meditation, um Achtsamkeit zu üben. Meditation benutzt Achtsamkeit als Hilfsmittel, um in die innere Versenkung zu kommen und nicht andersherum. Es gibt noch einen zweiten Weg, wie sie geübt werden kann: Sie wird geübt genau dort, wo sie auch gebraucht wird, nämlich im Alltag; genau in jeder Situation, in der wir uns gerade befinden und bei allem, was wir gerade tun. Das bringt sogar Vorteile. Denn mancher regelmäßig Meditierende klagt darüber, dass er sich schwer damit tut, die Erfahrungen aus der Meditation in den Alltag umzusetzen. Kaum hat er den friedvollen Zustand des Meditierens verlassen und kommt in Berührung mit den Anforderungen des Alltags, verliert er diesen Zustand wieder.
Fangen wir in ganz kleinen Einheiten an, die immer wieder angewandt werden. Nach und nach werden sie dann zum Bestandteil des täglichen Tuns und Erlebens. Wenn wir vergessen, achtsam zu sein – und das wird anfangs häufiger der Fall sein – stellen wir das bewertungsfrei fest, erinnern uns einfach an unsere Absicht und holen uns geduldig wieder zurück. Ja, zu merken, dass wir vergessen haben achtsam sein zu wollen, ist gerade bereits der erste Schritt in die Achtsamkeit hinein. Denn das bedeutet, dass wir insoweit achtsam waren zu merken, dass wir vergessen haben, achtsam zu sein.
Geduldig und nicht streng mit sich selber zu sein, sich keinen Druck zu machen, gehört unbedingt zum Üben dazu. Ein Perfektionsanspruch ist genau das Gegenteil, was Achtsamkeit beinhaltet. Ich gehe im Üben achtsam mit mir selber um und verhalte mich bewertungsfrei mir selbst gegenüber, wenn ich vergessen habe auf meine Übung zu achten. Wichtig ist nur immer wieder die bewusste Entscheidung, dass ich dran bleiben will.
Mit der Zeit stellen sich erste wohltuende Veränderungen ein. Von da ab wird es allmählich zu einem Bedürfnis und dann immer mehr zur Gewohnheit, achtsam zu leben. Es wird sozusagen zu einem neuen Lebens-Modus. Je selbstverständlicher dieser Modus wird, desto unwillkürlicher funktioniert er auch. Wir können soweit kommen, dass wir nur Bruchteile von Sekunden benötigen, achtsam wahrzunehmen und dementsprechend zu entscheiden und zu handeln. Ein in Achtsamkeit geübter Mensch wirkt frisch und lebendig, wach und zugewandt und dennoch in sich ruhend.
Atem
Das einfachste Hilfsmittel, das wir immer bei uns haben, ist unser Atem. Atmen bedeutet Leben. Atem ist auch maßgeblich am Stoffwechsel beteiligt. Er bringt Sauerstoff in das Blut und Abfallstoffe werden nicht nur durch Blase, Darm und Schweiß ausgeschieden, sondern auch in gasförmigem Zustand durch den Atem. Wenn wir durch den Alltag hetzen, atmen wir oft oberflächlich und verkrampfen in unserer Muskulatur. Verspannte Muskeln sind weniger durchblutet. Das bedeutet dann auch, dass weniger sauerstoffreiches Blut an die Zellen herankommt und weniger Schlackenstoffe abtransportiert werden. Das führt zur Ermüdung und Erschöpfung. Unsere Lebenskraft wird eingeschränkt.
Wenn wir uns angewöhnen, mehrmals am Tag – und sei es nur für eine Minute – einfach einmal innezuhalten und durchzuatmen, sowohl im Sitzen als auch im Stehen, bis tief in den unteren Bauch hinein, dann ist schon ein erster wichtiger Schritt getan. Wenn wir dabei auf die Bauchdecke achten, wie sie sich beim Atmen bewegt, kommen wir auch heraus aus dem Kopf, in dem wir uns heutzutage viel zu oft aufhalten.
Wir können uns aber auch bewusst etwas Zeit dazu nehmen und uns länger mit dem Atem beschäftigen. Auf jeden Fall lassen sich immer Momente am Tag finden, während denen wir das auch von anderen Menschen unbemerkt machen können, wenn wir nur wirklich wollen. Selbst wenn wir in der Schlange an der Kasse stehen: Wir atmen einfach mehrmals in den Bauch hinein und spüren wie die Luft in den Körper strömt und beim Ausatmen wieder entweicht. Mit der Zeit gelingt es, die Aufmerksamkeit dann ganz selbstverständlich aufzuteilen.
Ein Teil ist bei der Atmung, der andere nimmt wahr, was gerade an der Kasse vor sich geht. Und schon haben wir ein Stück weit Achtsamkeit gelernt. Das Achten auf die Atmung ist wichtig, um mit der Zeit ein deutlicheres Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen und für die innere Körpermitte. Über den Körper sind wir ständig mit der Gegenwart verbunden, denn er existiert nur jetzt und hier. In der Vergangenheit und Zukunft sind wir nur mit den Gedanken. Durch das Hineinspüren in die innere Körpermitte können wir uns automatisch – wie oben erwähnt – in den gegenwärtigen Moment holen, raus aus den Prozessen im Kopf.
Hilfreich ist es, die allerersten Experimente mit der bewussten Atmung zu machen, wenn wir zuhause etwas Zeit haben. Das muss nicht lange dauern. Es ist leichter, es erst im Liegen oder Sitzen anstatt im Stehen auszuprobieren, weil hier die Bewegungen der Bauchdecke deutlicher wahrnehmbar sind. Oder wir nehmen einfach die Zeit vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen dafür. Hier können wir auch bequem unsere Handflächen auf den Bauch legen, um die Atembewegungen deutlicher zu spüren. Bevor wir auf den Atem achten, ist es auch interessant, zunächst einmal in alle Körperstellen hineinspüren, die die Matratze berühren, also die Fersen, die Waden, das Gesäß, Arme, Schultern,
Handflächen, Hinterkopf.
Fusskontakt
Ein anderes sehr praktisches Hilfsmittel, um aus dem Kopf und in den gegenwärtigen Moment zu kommen, ist der Kontakt zu unseren Füßen. Wenn wir morgens beim Aufstehen die Beine aus dem Bett schwingen und die Füße auf den Boden stellen, halten wir inne und fühlen ganz bewusst die ersten Berührungen der Fußsohlen mit dem Boden, ehe wir losgehen. Begrüßen wir auf diese Weise den Tag, indem wir bewusst den Untergrund unter den Füßen wahrnehmen, der uns den ganzen Tag tragen wird. Auf dem Weg zum Badezimmer bleiben wir weiterhin bei jedem Schritt in bewusstem Fußkontakt mit dem Boden. In die Fußsohlen zu spüren, das können wir den ganzen Tag über immer wieder kurz machen. Im Stehen, im Gehen, aber auch im Sitzen. Wir werden mit der Zeit merken, wie wohltuend und erholsam das ist.
Sinneseindrücke
Hilfreich und mit der Zeit richtig spannend ist es, sich wieder mehr bewusst auf alle Sinneseindrücke einzulassen.
– Riechen und Schmecken: Versuchen wir alle möglichen Gerüche wahrzunehmen. Ganz viele Dinge haben einen eigenen Geruch. Schnuppern wir immer wieder einmal. Riechen wir an den Getränken, bevor wir sie zu uns nehmen (wie bei einer Weinprobe) oder an der Seife. Oder achten wir darauf, welcher Geruch in der Luft liegt, wenn wir das Haus verlassen. Nehmen wir uns etwas mehr Zeit beim Essen. Kauen wir langsam. Schmecken wir mit der Zunge, bevor wir schlucken; schlucken wir bewusst. Wenn wir im Berufsleben stehen und uns in der Mittagspause nur etwas beim Bäcker holen. Essen wir dieses langsam mit Bedacht.
– Sehen: Wenn wir auf der Parkbank sitzen oder im öffentlichen Verkehrsmittel: Hängen wir einmal nicht unseren Gedanken nach oder lesen wir einmal kein Buch oder keine Zeitung, sondern beobachten wir, was um uns her geschieht. Welche Farben sehen wir? Welche davon gefallen uns besonders gut? Achten wir auf Formen von Gegenständen. Beobachten wir Menschen. Versuchen wir anhand deren Gesichtsausdruckes und äußeren Erscheinungsbildes uns ein wenig in sie hineinzuversetzen. Stellen wir uns vor, in welchem Zuhause sie wohl leben.
– Hören: Wenn wir alleine in der Stille unsere Zuhauses sind: Horchen wir. Sind da nicht doch noch Geräusche, die uns sonst noch nie aufgefallen sind? Ist Stille wirklich still? Manchmal können wir sogar das eigene Blut fließen hören als ein diffuses, dumpfes Brummen tief in den Ohren.
– Spüren: Tasten wir einmal die Gegenstände ab, die wir täglich benutzen. Streichen wir mit den Händen über ihre Oberfläche. Ist sie weich, rauh, geriffelt, warm, kalt? Versuchen wir, unseren gesamten Körper von innen her zu spüren. Spüren wir der Lebendigkeit in den Füßen und Händen nach. Wir können uns auch vorstellen, dass von unseren Füßen Wurzeln in den Erdboden wachsen, durch die wir Energie aus der Erde aufnehmen, die dann durch den ganzen Körper nach oben strömt. Beim Weg zum Mülleimer vor dem Haus nehmen wir einmal jeden Schritt bewusst wahr, riechen wir die Luft. Schauen wir uns um, was wir in unmittelbarer Nähe entdecken können. Bemerken wir den Regenwurm, der da vielleicht gerade unsere Strecke kreuzt oder den Käfer? Spüren wir beim Treppensteigen wie wir jede einzelne Stufe erklimmen.
Alles eignet sich zum Üben
Möglichkeiten zum langsamen, bewussten Tun lassen sich überall finden. Das Zähneputzen eignet sich genauso zum Üben wie Wäschebügeln oder einen Text mit einem Stift schreiben. Es findet sich am Tag immer einmal ein kurzer, ruhiger Zeitabschnitt, in dem wir in dieser Weise üben können. Lernen wir wieder zu staunen wie ein Kind. Nicht alles als selbstverständlich hinzunehmen, bringt uns die Gegenstände des Alltags wieder näher. Wundern wir uns auch über die Schönheiten in der Natur, über den Aufbau einer Blüte, die Ausstrahlung, eines Baumes, der wie eine würdevolle Persönlichkeit wirkt. Das alles mag zunächst recht kompliziert und anstrengend erscheinen. Es mag am Anfang auch ungewohnt sein. Mit kleinen Schritten begonnen und mit Geduld wachsen wir jedoch in dieses neue und wohltuende Lebensgefühl hinein.
Wir können es auch ein bisschen von der sportlichen Seite betrachten. Wenn es mal nicht geklappt hat, versuchen wir es das nächste Mal wieder, um uns zu steigern.
Achtsamkeit, eine offene Lebenshaltung
Beim Üben und Anwenden von Achtsamkeit geht es übergeordnet darum, in eine offene, von Interesse geprägte Beziehung zu treten mit allem, das uns begegnet – eben mit dem Leben. Wir genießen wieder Sinneserfahrungen, wie das Knirschen des Schnees auf einem verschneiten Weg, die Frühlingsblüten die herabschweben, den Wind in den Bäumen, die Feuchtigkeit im Herbst auf unserer Haut; wir schmecken, das was wir essen wirklich – den Käse, das frische Brot, die Orange, den Apfel. Wir lernen wieder ohne Eile zu gehen und dabei die sanfte Berührung des Winds auf der Haut zu spüren, dem Gezwitscher der Vögel zu lauschen, den Boden unter den Füßen zu spüren, unsere Bewegungen wahrzunehmen.
Es geht darum, uns berühren zu lassen und innerlich Anteil zu nehmen, sei dies an Menschen, Tätigkeiten oder Situationen. Dabei wird nicht alles angenehm sein, was uns begegnet. Wir haben jedoch die Möglichkeit, eine klare Haltung zu allem zu gewinnen und angemessene Entscheidungen zu treffen.
So lässt sich jetzt schon erahnen, welche Erlebnisfülle sich auftut in der Achtsamkeit, bevor wir begonnen haben zu üben; wir können ahnen, wie der Alltag räumlicher, tiefer, intensiver wird. Wie daraus neue Kraft erwächst. Und irgendwann entsteht auch Freude. Wir werden ein neues Gefühl von innerer Freiheit entdecken, dass uns stärkt. Wir werden uns innerlich fester und ruhiger fühlen.
Man könnte sagen, Achtsamkeit fügt einem zweidimensionalen Leben eine dritte Dimension hinzu; zur Länge und Breite kommt die Tiefe hinzu, die Leben räumlich und erst richtig spannend macht. Wir erinnern uns, was es heißt wirklich zu leben und nicht nur zu existieren.